Friedrich Dürrenmatt
Der Besuch der alten Dame
Der erhält
Gerechtigkeit, der bezahlt. Der Preis: 1 Milliarde.
Die
Milliardärin Claire Zachanassian kehrt nach Güllen, der Stadt ihrer
Kindheit, zurück. Güllen ist eine herunter gekommene Stadt: die Fabriken
sind geschlossen, den Güllenern ist nur noch die Erinnerung an die
glanzvolle Vergangenheit geblieben. Der einzige Hoffnungsschimmer ist
Claire Zachanassian und ihr Geld.
Die alte Dame
ist auch bereit, der Stadt und ihren Menschen zu helfen – unter einer
Bedingung: sie fordert den Tod von Alfred Ill, ihrer Jugendliebe. Alfred
leugnete einst vor Gericht, der Vater ihres Kindes zu sein, bestach
Zeugen, die zu seinen Gunsten aussagten, und stürzte dadurch Claire ins
Unglück. Hochschwanger mußte sie die Stadt verlassen, nach der Geburt
wurde ihr das Kind weggenommen und starb ein Jahr später, sie landete in
einem Bordell. Nun, 45 Jahre später, fordert sie Gerechtigkeit für das
Unrecht, fordert sie die Bestrafung von Alfred, fordert seinen Tod. Als
Gegenleistung ist sie bereit der Stadt 1 Milliarde zu geben. Empört weist
der Bürgermeister dieses Angebot zurück: „Noch sind wir in Europa, noch
sind wir keine Heiden“.
Doch nach und
nach legt sich die Empörung, läßt die Aussicht auf Wohlstand die
moralische Entrüstung dahinschmelzen. Alfred Ill wird klar, er ist in
dieser Stadt nicht mehr sicher, seine Zeit ist abgelaufen. Die Güllener
erliegen dem Gift, das Claire Zachanassian ausgestreut hat, erliegen dem
Lockruf des Geldes. Als Pfarrer, Lehrer und Bürgermeister moralisch
einwandfreie Gründe für den Mord zusammengebastelt haben – es muß
Gerechtigkeit geübt und Unrecht bestraft werden – ist das Schicksal von
Alfred Ill besiegelt.
Der zentrale
Punkt der Ereignisse ist in der Inszenierung von Robert Pienz ein Hotel –
ein Ort der in gleichem Maße von Begegnung, Übergang und Verabschiedung
geprägt ist. Das Eden-Hotel läßt den Glanz vergangener Zeiten erahnen. Der
Verfall der Stadt zeigt sich symbolhaft in den abgewetzten Möbeln, dem
verstaubten Inventar.
Anfangs
bestimmt die Lethargie der Einwohner von Güllen das Tempo der Handlung.
Mit dem Wiedererwachen der Lebensgeister – hervorgerufen durch den in
Aussicht gestellten Reichtum – beschleunigt sich die Szenenabfolge in dem
Maße, wie die Menschen Stück für Stück ihre Prinzipien und
Wertvorstellungen abschütteln.
Claire
Zachanassian wird von einem Fernsehteam begleitet. Die allgegenwärtige
Kamera beobachtet und dokumentiert den Wandel der Menschen. Der Zuschauer
sieht nicht mehr nur die Ereignisse auf der Bühne. Die Aufnahmen des
Kameramannes sind gleichzeitig im Hintergrund auf einer Kinoleinwand zu
sehen. Gesamtbild und Großaufnahme überlagern sich. Das Intime, Private
wird öffentlich gemacht – ein Spiegel unserer Mediengesellschaft.
Die einzige
globale Macht – das Geld – bestimmt die Prinzipien und Handlungen der
Menschen. „Mit meiner Finanzkraft leistet man sich eine Weltordnung“, sagt
Claire Zachanassian. Für ihren Wunsch nach Rache instrumentalisiert sie
eine Stadt. Ihr Richterspruch bestimmt das Strafmaß – ihre einzige
Legitimation, die von allen anerkannt wird, ist Geld. Grundwerte, wie das
menschliche Leben, werden nebensächlich. Das Kollektiv opfert den
einzelnen für das Wohl vieler.
„Der Besuch
der alten Dame“ wurde 1956 uraufgeführt. Robert Pienz und dem Ensemble des
Schauspielhauses ist es eindrucksvoll gelungen, die Aktualität dieses
Stückes in Szene zu setzen: das Diktat der Finanzkraft, die Nichtigkeit
hehrer Werte angesichts der Armut, die Bedeutungslosigkeit des Individuums
gegenüber dem Kollektiv.
9. 5. 2004
Michaela
Essler,
Dorfzeitung
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