Oberösterreich-Österreich in Geschichte und
Literatur mit Geographie
32. Jahrgang, Mai-Juni/Juli-August 1988, Heft ¾
Der Aufsatz wurde als Ergänzung zum Referat von Ludwig
Laher für die Veröffentlichung in der Dorfzeitung zur
Verfügung gestellt. Textdownload
Fotos zur
"Herzfleischentartung" von Ludwig Laher
Andreas Maislinger
Ergänzung einer Ortschronik "Arbeitserziehungslager" und
"Zigeuneranhaltelager" Weyer (Innviertel)
"In Oberösterreich (Gemeinde St. Pantaleon)
existierte vom 5. Juli 1940 bis ca. 7. Jänner 1941 ein
Erziehungslager für Arbeitsunwillige und Asoziale. Vom 7. Juli
1940 bis etwa Ende August 1940 war das Lager im Gasthaus
Göschl in Moosach {Gemeinde St. Georgen, Bezirk Salzburg)
untergebracht, vom Frühherbst 1940 (unterschiedliche Angaben)
bis 7. oder 9. Jänner 1941 kam es zur Auflösung des Lagers,
angeblich wegen vorgekommener schwerer Misshandlungen von
Lagerinsassen, von denen fünf an den Folgen dieser Behandlung
starben. In einer Anzeige an die Bezirkshauptmannschaft in
Braunau vom 3. Dezember 1952 wird darauf hingewiesen, daß der
NS-Gauleiter von ,Oberdonau', Eigruber, das Lager St.
Pantaleon bzw. Weyer illegal einrichten ließ, ohne die
Regierungsstellen in Berlin davon informiert zu haben. Die
Lagerinsassen zog man zu Entwässerungsarbeiten (Ibm -
Waidmoos) heran. Die Bewachung der arbeitsfähigen Zigeuner und
deren Transport vom bzw. zum Lager besorgten Organe der
Reservegendarmerie.
Unmittelbar nach der Auflösung des Lagers wurde
das Gasthaus Geratsdorfer in Weyer in ein Zigeunerlager für in
Oberösterreich aufgegriffene Zigeuner umfunktioniert, das
allerdings nur vom 18. oder 19.Jänner 1941 bis zum 2. März
1941 existierte und dann aufgelassen wurde, wie einem
Erhebungsprotokoll an die Oberösterreichische Landesregierung
in Linz vom 18. März 1954 zu entnehmen ist. In einem anderen
Akt an die Bezirkshauptmannschaft in Braunau vom 3. August
1959 wird das Auflassungsdatum mit 29. Oktober 1941 angegeben.
Es dürfte sich hierbei um den richtigen Termin handeln, da im
Lackenbacher Lagertagebuch am 4. November 1941 von einer
Einweisung von 301 Zigeunern aus Linz die Rede ist, als
vermutlich die Zigeuner von Weyer laut Erhebung allesamt nach
Lackenbach überstellt wurden. 1) Als Grund für die rasche und
endgültige Auflassung des Lagers wird die geringe
Arbeitsleistung der Zigeuner bei der Ibm - Waidmooser
Entwässerung angegeben. Die Anzahl der nach Weyer
eingewiesenen Zigeuner beträgt laut Protokoll 350, worunter
sich auch Kinder befunden haben sollen. Wann allerdings die
ersten Zigeuner nach Weyer gebracht wurden, konnte ich nicht
eruieren. Außerdem gab es in Oberösterreich in der Nähe von
Attnang - Puchheim in Steyrermühl ein NS-Arbeitslager, in dem
unter anderem auch Zigeuner untergebracht waren."2)
Die Gemeinde St. Pantaleon gab 1979 (Anlass:
200 Jahre Innviertel bei Österreich) eine 132 Seiten
umfassende Chronik heraus. In dieser Ortschronik findet sich
unter anderem eine Geschichte des Gerichtes Wildshut, eine
Liste aller Bürgermeister seit 1848, persönliche Erinnerungen
einiger Gemeindebürger, Geschichte des Postamtes, Notizen aus
der Geschichte des Brauerei- und Gutsbetriebes Wildshut, der
Hauptschule, des Schützenvereines und vieles mehr.
Auch der Österreichische Kameradschaftsbund St.
Pantaleon kommt zu Wort: ,,1939- 1945 kehrten doppelt so viele
Soldaten nicht heim wie im Ersten Weltkrieg: 48 waren gefallen
und 16 wurden vermisst. Unsäglicher Schmerz traf die
Angehörigen, erschüttert waren Freunde und Bekannte. 1950
wurden diese Helden in einem neuen Kriegerdenkmal verewigt."3)
Von den Ermordeten des Lagers Weyer steht in dieser
Ortschronik nichts. 4) Desgleichen findet man darin nichts
über die von St. Pantaleon über Salzburg und Lackenbach
(Burgenland) nach Auschwitz-Birkenau transportierten Zigeuner.
I
Allgemein fällt auf, daß Ortschroniken in
Österreich die Zeit von 1938 bis 1945 aussparen. Dies hat eine
Untersuchung der Tiroler Ortschroniken ergeben 5), und der
Vergleich mit den Ortschroniken der anderen Bundesländer
bestätigt diesen Eindruck. Wenn überhaupt Information über die
Zeit des Nationalsozialismus gebracht wird, dann beschränkt
sich diese meist auf die Liste der gefallenen "Helden" des
Ortes. Gefragt, warum diese Jahre ausgelassen werden, bekommt
man meist die Antwort, dies sei noch nicht lange genug zurück,
es würden noch zu viele leben. Man kann nicht darüber
schreiben. Aber über andere Ereignisse, welche weniger lange
zurückliegen, wird ausführlich geschrieben. Weiters wird
eingewendet, daß alle Unterlagen aus dieser Zeit verbrannt
oder sonst wie vernichtet wurden und man ohne Dokumente nicht
berichten könne. Mir fällt allerdings auf, daß über andere
Zeitabschnitte oft ebenfalls keine Dokumente vorliegen, über
die Ortschroniken sehr wohl berichten, wobei sie sich auf die
Erinnerungen einzelner Gemeindebürger verlassen. Nach dieser
Methode hätten Bewohner von St. Pantaleon sicher über das
Lager berichten können, das haben meine Nachforschungen
gezeigt. Sie wurden aber von den Herausgebern der erwähnten
Ortschronik nicht danach gefragt, wobei dies aus Unachtsamkeit
geschehen sein kann, vielleicht aber auch aus einer falsch
verstandenen Sensibilität ("nur nicht daran rühren").
Ortschroniken wollen eine heile Welt vermitteln, und wer will
da schon gerne, zumal der Anlass für die Ortschronik St.
Pantaleons ein feierlicher war, an die Grausamkeiten der
Nazi-Zeit erinnert werden. Neben einem Beitrag über
"Fremdenverkehr in St. Pantaleon", neben einem über "
Theatergesellschaft" ebenda hätten die Erinnerungen Katharina
Lindenbauers sicher mehr als ernüchternd gewirkt:
" Wir haben da fürchterlich geweint. Es war ein
Novembertag, und da haben sie die Leute bloßfüßig
fortgetrieben. Die Kinder haben geschrieen und geweint. Na,
die haben auch nur mitnehmen können, was sie in der Tasche
haben tragen können. Es war so grauenhaft. Na, und Flöhe haben
wir so viele gehabt, daß ich heute, wenn ich daran denke, mich
noch oft kratzen muss. Die Flöhe waren von den Zigeunern."6)
Derartige Erinnerungen trüben natürlich jedes harmonische
Bild. Verzichten Ortschroniken deshalb auf sie?
II
Spätestens seit dem Fall Reder -
Frischenschlager (1985) und den Auseinandersetzungen im
Gefolge des Bundespräsidentenwahlkampfes 1986 ist der Eindruck
entstanden, daß in Österreich " Verdränger" in der Mehrheit
sind, daß es daran mangelt, Verantwortung für die Beteiligung
an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu übernehmen. Die
Verdrängung eines Teiles der Dorfgeschichte ist Teil der
Verdrängung eines Teiles der nationalen Geschichte, die Toten
des Arbeitserziehungslagers Weyer wurden vergessen wie die
SS-Männer österreichischer Herkunft, die in den
Vernichtungslagern mordeten, verdrängt wurden. Bundeskanzler
Franz Vranitzky, im September 1987 auf Staatsbesuch in der
Volksrepublik Polen, erinnerte im ehemaligen Vernichtungslager
Auschwitz- Birkenau an die 30.000 österreichischen Opfer,
nicht aber an die Täter österreichischer Herkunft, waren doch
Österreicher im Vernichtungsapparat der Nationalsozialisten
überproportional vertreten; Simon Wiesenthai hat diese
Tatsache in seinem Memorandum für Bundeskanzler Josef Klaus
1966 aufgezeigt.
Neben dieser mangelnden „Trauerarbeit" 7) ist
es die gleichgültige bis unterdrückende Politik der Republik
Österreich gegenüber Sinti und Roma, weshalb Weyer vergessen
wurde. Die Opfer des Lagers Lackenbach haben einen
Gedenkstein. Er wurde vor drei Jahren errichtet. Nach
jahrelangen Bemühungen der Österreichischen Lagergemeinschaft
Auschwitz und anderer Vereinigungen enthüllte Bundespräsident
Rudolf Kirchschläger am 6. Oktober 1984 das Denkmal. Bei
dieser Denkmalenthüllung kamen Sinti und Roma nicht wesentlich
zu Wort. Viele von ihnen fühlten sich zu Recht bevormundet.
III
In Österreich gibt es erst schwache Ansätze
einer »Geschichte von unten", während in der Bundesrepublik
bereits viele Forschungsarbeiten über die NS-Zeit nach dieser
Methode entstanden sind und entstehen. Obwohl wiederum nur ein
Teil dieser Arbeiten veröffentlicht werden konnte, fanden sie
oft Eingang in Regionalzeitungen. Auch so genannte
Geschichtswerkstätten sind entstanden, und auf
Geschichtsfesten werden Forschungsergebnisse aus der
Regional-, Lokal- und Ortsgeschichte vorgestellt. In
Österreich beschränken sich diese Vorhaben auf kleine,
ziemlich abgeschlossene Gruppen von wenigen Interessierten.
Von einer neuen Geschichtsbewegung kann keine Rede sein. 1985
förderte das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport
zwar Schülerarbeiten über „Heimkehr", mit dieser Aktion
lenkte man das Interesse der Schüler allerdings auf den
Zeitraum nach 1945. In St. Pantaleon haben wir uns nicht daran
gehalten und auch die NS-Zeit mitbehandelt.
IV
In der Bundesrepublik Deutschland besteht ein
Verband Deutscher Sinti und Roma, der in den letzten Jahren
viel erreichen konnte. Es sind Bücher über Zigeuner
erschienen, Zigeuner haben sich zum ersten Mal auch
zusammengeschlossen, um sich zur Wehr zu setzen. In Österreich
fehlt dieser Zusammenschluss. Es gibt deshalb auch niemanden,
der für die österreichischen Zigeuner sprechen könnte. 8) Auch
bei den ehemaligen Häftlingen des so genannten
"Arbeitserziehungslagers" ist es ähnlich. Meist fehlt ihnen
das Interesse, sich einem KZ-Verband anzuschließen, und von
den ehemaligen KZ-Häftlingen werden sie nicht voll anerkannt.
Dies ist jedenfalls mein Eindruck nach zahlreichen Gesprächen
mit Angehörigen beider Gruppen. Schließlich hat das Wort
„Arbeitserziehungslager“ für einige den Beigeschmack einer
berechtigten Strafe. Wer nicht arbeiten wollte, wurde eben von
den Nazis dazu erzogen. Dass die meisten Häftlinge dieser
Lager wegen Kleinigkeiten oder ihres politischen Widerstandes
eingeliefert wurden, scheint weitgehend unbekannt oder
unberücksichtigt zu sein und zu bleiben.
Keiner der Verbände der Opfer des NS-Regimes
fühlt sich fur diese ehemaligen Häftlinge der
Arbeitserziehungslager wirklich verantwortlich. Und den
Zigeunern und den ehemaligen Häftlingen fehlt das Vertrauen,
sich an diese Verbände zu wenden. Und ohne Druck eines
KZ-Verbandes ist kaum zu erwarten, daß eine kleine Gemeinde
darauf hinweist, daß es auf ihrem Gebiet ein "kleines
Konzentrationslager" gab. In Lackenbach kam die Anregung von
außen. 9)
V
Auch die Zeitgeschichtsforschung ist nicht aus
der Verantwortung zu entlassen. Ohne eine genaue Analyse der
veröffentlichten Forschungsergebnisse geben zu können, fällt
doch auf, daß eine gewisse Schwerpunktsetzung bei der
Geschichte der Arbeiterbewegung und eine Vernachlässigung der
Regional- und Ortsgeschichte zu bemerken ist. Bei der
Durchsicht der Veröffentlichungen entsteht der Eindruck, als
ob bewusst zwei verschiedene Welten aufrecht erhalten würden:
die eine ist die der Zeitgeschichtler, die andere die der
Ortschronisten. Inhaltlich bestimmt wird die eine von der
Erforschung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus und
die andere von der notwendigen "Pflichterfüllung". Beispiel
für die eine sind die Dokumentationen über „Widerstand und
Verfolgung 1934-1945" 10), Zeugnis für die Tätigkeit der
anderen das in jedem Ort errichtete Kriegerdenkmal, mit dem
das Gegenteil behauptet wird: Nicht die, die Widerstand
leisteten, sondern die, die im Rock der Deutschen Wehrmacht
für Adolf Hitler das Leben gaben, sollen in die Geschichte
eingehen. Mit ganz wenigen Ausnahmen fehlt der
österreichischen Zeitgeschichtsforschung das Bestreben, bis
hinein in die kleinste Gemeinde zu wirken. Die
Veröffentlichungen wenden sich größtenteils mehr oder weniger
bewusst an einen engen Leserkreis. Es gibt Ausnahmen, das
steht fest, aber jeder scheint in seiner Welt bleiben zu
wollen.
VI
Soweit meine fünf Erklärungsversuche. Ermutigt
durch meine Arbeiten über den SA-Putschversuch im Juli 1934 in
der Nachbargemeinde Lamprechtshausen 11), begann ich mich vor
etwa drei Jahren auch mit St. Pantaleon zu beschäftigen. Aus
der Literatur über die NS-Zeit in Österreich hatte ich
zumindest einige wenige Informationen. In " Widerstand und
Verfolgung in Oberösterreich 1934-1945" 12) finden sich einige
Dokumente über die begangenen Grausamkeiten und Morde, welche
eingangs erwähnt wurden. Bei den mir notwendig erscheinenden
Ergänzungen ging es jedoch nicht ausschließlich um weitere
Fakten, sondern vielmehr um das Wissen der Einwohner dieser
Gemeinde und um ihre Fähigkeit und Bereitschaft, sich zu
erinnern. Mir wurden immer wieder Beispiele vor Augen
gehalten, wonach kaum eine Gemeinde bereit ist, sich ihr
"kleines KZ im eigenen Ort" vorzeigen zu lassen. Obwohl mir
natürlich auch einige den guten Rat gaben, nicht viel
herumzustöbern und die Sache auf sich beruhen zu lassen,
bemerkte ich bald ein großes Interesse. Und zwar von
verschiedenster Seite: Eine Frau, welche in der Nähe des
"Zigeuneranhaltelagers" arbeitete, berichtete offen über ihre
schmerzlichen Erinnerungen. Ich habe sie oben bereits kurz zu
Wort kommen lassen. Sie war sogar froh, endlich einmal darüber
sprechen zu können. Bereitschaft zur Mitarbeit und
Unterstützung fand ich auch beim Bürgermeister und beim
Direktor der Hauptschule. Im April 1985 konnte daher in der
Hauptschule ein vom Unterrichtsministerium unterstütztes
Projekt ,,40 Jahre Zeitgeschichte" mit dem Schwerpunkt
Nationalsozialismus durchgeführt werden. Im an die Eltern der
Schuler weitergegebenen Bericht veröffentlichte ich folgenden
Appell, um ein Jahr später eine Ausstellung in der Hauptschule
zu organisieren. Ich zitiere diesen Aufruf ganz, weil er eine
Art Grundsatzprogramm der folgenden einjährigen
Nachforschungen darstellte:
"Beim Wort ,Geschichte' denkt man entweder an
die Geschichte eines Alexander des Großen, Cäsar, Kaiser
Maximilian oder Franz Joseph I. Ältere Menschen denken auch an
ihre eigenen Erfahrungen im I. oder II. Weltkrieg. Auch bei
diesen persönlichen Erinnerungen überwiegen die ,großen
Ereignisse' der Schlachten. Auf die Idee, daß es Geschichte
auch bei uns zu entdecken gibt, kommen die meisten nicht.
Die Schüler der Hauptschule St. Pantaleon sind
mit ihren Lehrern darauf gekommen. Für sie findet Geschichte
nicht mehr nur in den großen Städten statt, sondern auch und
gerade in ihrer engsten Umgebung. Dabei ist diese Geschichte
nicht nur alltäglich, sondern durchaus auch ,groß', Jedenfalls
bezogen auf das Leid, welches Menschen anderen Menschen
zugefügt haben. Um die Gräuel des Nationalsozialismus der
Jahre 1938 bis 1945 kennen zu lernen, sind die Schuler zwar in
das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen gefahren; nichts
anderes, nur kleiner (und als ,Arbeitserziehungslager
bezeichnet) haben sie auch im benachbarten Weyer vorgefunden.
Mit dem Unterschied allerdings, daß diese Geschichte noch
nicht geschrieben wurde. Es finden sich über das Lager Weyer
nur wenige Aufzeichnungen in den Geschichtsbüchern. Die
Geschichte des Zigeunersammellagers ist überhaupt noch nicht
geschrieben worden. Dabei sind von Weyer aus einige hundert
Zigeuner in den Tod nach Mauthausen und Auschwitz-Birkenau
geschickt worden.
Die Geschichte dieser Zigeuner ist noch zu
schreiben. Da wahrscheinlich keiner überlebt hat, wird es
jedoch sehr schwierig sein. Es geht daher auch. nur, wenn
Menschen aus der Nachbarschaft Weyers über Ihre Erinnerungen
berichten. Die Arbeit der Schüler und Lehrer aus St. Pantaleon
sollte daher nur der Anfang gewesen sein. Ohne Vorwurf an
diejenigen, welche damals nichts dagegen getan haben, als
,Asoziale' beim Verbauen der Moosach geschlagen und ermordet
wurden, möchte ich die Burger der Gemeinde St. Pantaleon
bitten, uns über diese Zeit zu berichten. Es soll keiner
angeklagt, aber über diese Zeit aufgeklärt werden." 13)
Zu Pfingsten 1986 war diese Aufklärung
angesagt. Während der zwei Tage kamen über 200 Personen, und
nur wenige meinten, ich sollte mich über andere Diktaturen
aufregen und endlich damit aufhören, in der Vergangenheit
herumzukramen. Besonders während des Schlussgespräches kam
noch eine Fülle von Hinweisen auf die beiden Lager.
Noch Wochen danach beschäftigte diese
Veranstaltung die Menschen mehr als vieles andere, was sonst
Gesprächsstoff im Dorf bietet. Was die Bereitschaft zur
Aufarbeitung und " Vergangenheitsbewältigung" 14) betrifft,
möchte ich jedoch trotzdem noch sehr vorsichtig sein. Es
könnte auch ein Strohfeuer gewesen sein. Was jedoch sicherlich
bleibt, ist der Umstand, daß einige Menschen zum ersten Mal
Gelegenheit hatten, ihre Erinnerungen auszusprechen. Im
Gegensatz zu den alten Kameraden der Deutschen Wehrmacht und
den alten Parteigenossen haben nämlich Gegner des
Nationalsozialismus im Dorf kaum oder gar keine Möglichkeit,
ihre Meinung zu äußern. Im Gasthaus dominiert die Erinnerung
an den Krieg. Wer nicht an der Front war, kann nicht mitreden.
Und wer seine "Pflicht" nicht erfüllte, wird nicht so leicht
akzeptiert. War einer gar im KZ, so ist es besser für ihn, den
Mund nicht aufzumachen.15) Dabei war St. Pantaleon sicherlich
nicht stark nationalsozialistisch eingestellt. Dieser Ort war
eher christlich-sozial bis monarchistisch, und der
NS-Ortsgruppenleiter und Bürgermeister war eher unbeliebt.
Trotzdem entstand nie eine Stimmung gegen den
Nationalsozialismus und für den Widerstand. Schon gar nicht
nach 1945. Die ehemaligen Soldaten der Deutschen Wehrmacht und
der österreichischen Armee des Ersten Weltkrieges haben ihren
Kameradschaftsbund mit jährlicher "Heldenehrung" auf dem
Friedhof. Der ehemalige KZ-ler kann zu Hause bleiben oder
seine Kameraden in Wien besuchen. Im Rahmen der Projektwoche
der Hauptschule kam Jaro Dvorak als ehemaliger politischer
Häftling des Konzentrationslagers Dachau erstmals im eigenen
Ort zu Wort. Und ein Jahr später viele andere, welche wie er
gegen den Nationalsozialismus waren.
Das ist schon eine Ergänzung der Ortschronik.
Zwar noch nicht geschrieben, aber ausgesprochen. Franz
Jägerstätter, welcher nur wenige Kilometer weiter in St.
Radegund lebte, hat jedoch bis heute fast nur Gegner. Die
meisten St. Pantaleoner können und wollen nicht verstehen, daß
Jägerstätter recht hatte, weil er es ablehnte, in einem
ungerechten Krieg zu kämpfen und damit dem Terrorregime der
Nazis zu dienen.16)
Aber es ist nicht nur dieser Prozess des
gemeinsamen Erinnerns in Gang gekommen. Die Ausstellung der
Fotos l7) aus dem "Zigeunersammellager" Weyer brachte konkrete
neue Informationen, welche den Historikern bis jetzt aus den
noch vorhandenen und zugänglichen Akten nicht bekannt waren.
Ein Beispiel: Frau Theresia Hamberger arbeitete laut
Arbeitsbuch vom 29.Jänner 1941 bis 15. Feber 1942 im
Zigeuneranhaltelager Weyer l8) in St. Pantaleon. Wegen dieser
Eintragungen ist Frau Hamberger zu glauben, wenn sie
berichtet, daß sie mit den etwa 300 Zigeunern aus Weyer über
Salzburg nach Lackenbach fuhr. Die Zeitgeschichtsforschung
ging immer davon aus, daß der Abtransport über Linz und einige
Monate früher geschah. Auch über die Unterschiede in den
verschiedenen Lagern war bis jetzt wenig bekannt. Den
Eindruck, welchen die Fotos aus dem Lager Weyer im Vergleich
zu den Lagern in Salzburg und Lackenbach vermitteln, wurde
durch die Schilderung bestätigt. Auch war nicht bekannt, daß
Zigeuner aus Auschwitz-Birkenau nach Weyer geliefert wurden.
Frau Hamberger beschrieb jedoch die eintätowierten Nummern,
welche eindeutig darauf hinweisen, daß diese Menschen
tatsächlich in Auschwitz-Birkenau waren. Bei aller Vorsicht
beim Umgang mit derartigen mündlichen Quellen kann doch davon
ausgegangen werden, daß durch "oral history" 19) das Bild über
diese "kleinen KZs" vervollständigt werden kann. Dies
besonders dann, wenn die Möglichkeit besteht, die mündlichen
Informationen an Hand von Dokumenten zu überprüfen. Außerdem
decken sich die voneinander unabhängig gemachten Aussagen über
Einzelheiten. So schildert etwa Frau Lindenbauer den
Abtransport der Zigeuner ähnlich wie Frau Hamberger.
Lindenbauer habe ich bereits eingangs zitiert. Hamberger sagt
zum Abtransport:
,Ja, wir haben viel Schnee gehabt, wie wir sie
weggebracht haben. Einige hätten ja marschieren müssen bis
Bürmoos, weil aber so viel Schnee war, haben wir sie mit
Lastwagen hingebracht. Das war im Jänner 1942." 20)
Hamberger hatte mir aber auch erzählt, daß nach
dem Krieg eine Zigeunerfamilie bei ihr war, welche sie aus dem
Lager kannte. Einen weiteren Hinweis habe ich von Romani Rose,
dem Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Sinti und Roma,
erhalten: Frau Hildegard Lagrenne soll jemanden auf den Fotos
aus dem Lager erkannt haben. Leider habe ich von Frau Lagrenne
noch keinen konkreten Hinweis erhalten, 2l) Es scheint jedoch
möglich zu sein, Überlebende zu finden. Wenn dies der Fall
ist, werde ich das Gespräch über das ehemalige
"Zigeuneranhaltelager" fortsetzen und die Überlebenden zu Wort
kommen lassen. Diesem Zweck dient auch die Veröffentlichung
dieses Aufsatzes im Oberösterreich-Heft dieser Zeitschrift.
Ich erhoffe mir Hinweise und bin für eine Nachricht sehr
dankbar, 22) 1986 kam erst ein ehemaliger Häftling des
"Arbeitserziehungslagers": Alois Kreil berichtete den
Gesprächsteilnehmern über die Unmenschlichkeiten, welche ihm
damals von jungen Männern aus der engsten Umgebung angetan
wurden. Nur zwei wollten es nicht glauben und begannen über
die Schuld der Russen zu sprechen. Für die anderen war es ein
Stück Ortsgeschichte, welches sie genau so beachtet sehen
wollten wie die bereits niedergeschriebenen Teile.
Mir ging es darum, an Hand dieser Gemeinde
einige Strukturmerkmale der Zeitgeschichtsforschung und der
Vergangenheitsbewältigung auf unterster geographischer Ebene
aufzuzeigen.
Trotz der vielfach auftauchenden Behinderungen
bei der Erforschung des Nationalsozialismus "vor Ort" scheint
es zumindest einige wenige Ausnahmen zu geben. Nicht alle
Bürgermeister sind gegen diese Beschäftigung. Dies sei deshalb
betont, weil einige Bürgermeister bekannt wurden, welche sich
gegen eine derartige Aufarbeitung zur Wehr setzten. Vielleicht
gelingt es jedoch in St. Pantaleon beispielhaft, die
Ortschronik für die Jahre 1938 bis 1945 zu ergänzen?
Dies wäre nicht nur für diese Gemeinde zu
wünschen, sondern auch ein Beispiel für tausende andere
Gemeinden Österreichs.
Nach der Ergänzung der Ortschronik müsste dann
noch das Kriegerdenkmal ergänzt werden: Ergänzt um die Opfer,
welcher der örtliche Kriegerverein in den seltensten Fällen
gedenkt. Ich schreibe bewusst ergänzt und nicht ersetzt, weil
ich nicht davon ausgehe, daß es uns weiterhilft, wenn die
bestehenden Denkmäler abgerissen werden. Ein Denkmal kann auch
als Mahnung dienen, gerade wenn es auf ein fragwürdiges Lob
von "Heldentum" hinweist. Es handelt sich ja bei der
überwiegenden Zahl schlicht um in die Irre geführte Opfer
eines verbrecherischen Krieges. Wir können nur hoffen, daß
problematische Begleiterscheinungen in den Diskussionen um den
österreichischen Bundespräsidenten das Verständnis für diese
Fragen nicht beeinträchtigen, denn gerade auf lokaler Ebene
würde sich die Fortsetzung dieser Arbeiten sehr lohnen.
Fußnoten
1) Zum Lager Lackenbach: Erika Thurner:
Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich.
(Veröffentlichungen der Zeitgeschichte, 2. Band.)
Wien-Salzburg (Geyer) 1983. Dies.: Kurzgeschichte des
Nationalsozialistischen Zigeunerlagers in Lackenbach (1940 bis
1945), Eisenstadt 1984.
2) Herbert Michael Burggasser: Zigeuner in
Österreich, Diplomarbeit Universität. Wien 1980/81.
3) St. Pantaleon -200 Jahre Innviertel bei
Österreich, St. Pantaleon 1979, S. 120.
4) Siegwald Ganglmair: Das
"Arbeitserziehungslager" Weyer im Bezirk Braunau am lnn
1940-1941 Ein Beitrag zur Zeitgeschichte Oberösterreichs, in:
Oberösterreichische Heimatblättter, 37. Jg. 1983, Heft 1.
5) Andreas Maislinger: " Tirol am Atlantischen
Ozean" -Die Jahre 1938 bis 1945, in: Andreas Maislinger-
Anton Pelinka (Hg.): Handbuch zur Geschichte
Tirols, Band 4, Zeitgeschichte, Innsbruck (in Vorbereitung).
6) Gespräch mit Katharina Lindenbauer am 17.
März 1985. Archiv Andreas Maislinger SNS 10.
7) Alexander und Margarete Mitscherlich: Die
Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens.
München 1967. Margarete Mitscherlich: Erinnerungsarbeit - Zur
Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern. Frankfurt am Main
1987.
8) Erste Ansätze zu einer Organisierung gab es
während der Tagung "Minderheitenpolitik -Vom Umgang mit
Ausländern und ethnischen Minderheiten" der Gesellschaft für
Politikwissenschaft im Juni 1987, Dr. Karl Renner-Institut, im
Arbeitskreis Sinti und Roma.
9) Vom Bundesministerium für Inneres und der
Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz.
10) Bis jetzt sind Dokumentationen über Wien (3
Bände), Burgenland (1 Band), Oberösterreich (2 Bände), Tirol
(2 Bände) und Niederösterreich (3 Bände) erschienen. In
Bearbeitung ist die Dokumentation über Salzburg. Für
Vorarlberg hat die Johann-August-Malin-Gesellschaft "Von
Herren und Menschen -Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg
1933-1945", Bregenz (Fink) 1985, herausgegeben.
11) Andreas Maislinger:Spuren in die
Vergangenheit, in: Oberösterreichische Heimatblätter, 40.Jg.
1986, Heft 2; ders. :Zeugen eines Putsches -Lamprechtshausen
im Juli 1934 (in Vorbereitung).
12) Widerstand und Verfolgung in Oberösterreich
1934-1945, hgg. vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen
Widerstandes, Wien 1982, Band 2, S. 493- 504.
13) 40 Jahre Zeitgeschichte, Hauptschule St.
Pantaleon 15.-19.4. 1985. Direktor Karlheinz Schönswetter,
5120 St. Pantaleon, Oberösterreich.
14) Informationen zur Vergangenheitsbewältigung
sind erhältlich bei der Gesellschaft für politische Aufklärung
(GfpA), Innsbrucker Sekretariat, Mag. Reinhold Gärtner,
Innrain 52, 6020 Innsbruck, (0512) 724-3099. Unter anderem
organisiert dee GfpA jedes Jahr zu Ostern eine Fahrt in die
Gedenkstätte Auschwitz- Birkenau.
15) Andreas Maislinger: "', 'eigentlich hatte
ich schon alles bewältigt", Gespräch mit Jaro Dvorak! 62
Jahre, 5 Jahre politischer Häftling Im KZ Dachau, lebt als
Künstler in St. Georgen bei Salzburg; in: Jugendliche &
Rechtsextremismus, Schulheft 31/1983.
16) Erna Putz: Franz Jägerstätter. ", ..besser
die Hände als der Wille gefesselt. ..", Linz-Wien (Veritas)
1985.
17) Die von Tischlermeister Georg Felber zur
Verfügung gestellten Fotos wurden von der Gesellschaft für
politische Aufklärung zu einer kleinen Ausstellung
zusammengestellt. Diese kann vom Wiener Sekretariat,
Dr. Andreas Pribersky, Stumpergasse 56, 1060
Wien, (0222) 59991-169, angefordert werden.
18) Archiv Andreas Maislinger SNS 15/2.
19) Zur "oral history": Gerhard Botz - Josef
Weidenholzer: Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine
Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte
"geschichtloser Sozialgruppen, Wien-Köln (Böhlau) 1984. Hubert
Ehalt (Hg.): Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden
und Projekte einer Geschichte des Alltags, Wien-Köln (Böhlau)
1984.
20) Gespräch mit Theresia Hamberger, Archiv
Andreas Maislinger SNS 15/2.
21) Wer sich für die Situation der Sinti und
Roma im deutschen Sprachraum interessiert, kann sich an
folgende Adressen wenden: Gesellschaft für bedrohte Völker,
Postfach 2024, D-3400 Göttingen. Verband Deutscher Sinti und
Roma, Bergheimer Straße 26, D-6900 Heidelberg 1.
22) Dr. Andreas Maislinger, Institut für
Politikwissenschaft der Universität Innsbruck, Innrain 100,
6020 Innsbruck.
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