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"Weihnachtsputzerei"
Ein
Teil der Tische und Stühle auf dem Gehsteig, die Hälfte der restlichen
Tische zeigen mit den Beinen nach oben. Die gestern gewaschenen Vorhänge
warten über den Stuhllehnen im Freien. Im Innern des Beisls hantieren
Josélia und Nena mit Bürsten, Besen, Eimern. Ich sitze draußen vor der
Tür, trinke ein Bier, beobachte meine Umwelt und denke daran, dass ich
außer den unzähligen Obliegenheiten auch noch eine Weihnachtsgeschichte
schreiben sollte.
Weihnachten impliziert Stille, Ruhe, setzt Besinnlichkeit voraus. Alles
Dinge, die mir fehlen. Oh ja, wir haben jede Menge Weihnachtstrubel...
im Shopping Center. Dort gibt es auch eine üppige
Weihnachtsdekoration
mit abertausenden unregelmäßig blinkenden Lichtern, mindestens einen
Weihnachtmann vom Dienst für die lieben Engelein, Söhne und Töchter der
einkaufenden Vertreter unserer Mittelklasse, verirrt zwischen
Lockangeboten und ihren marktschreierischen Verkäufern. Leider fehlen
mir in meinem südamerikanischen, tropischen Domizil Dinge wie
Tannenbaum, Wintermantel, Eile, um bald der Kälte zu entrinnen... an
meine Kindheit und Jugendzeit denkend, denn heute spielt sich auch in
Österreich die vorweihnachtliche Hektik nicht mehr nur in der Altstadt
und im Freien vor den Auslagen ab, sondern in klimatisierten und
geheizten Einkaufszentren. Gewisse weihnachtliche Details, die uns noch
vor Jahrzehnten wichtig erschienen, haben wir gelernt zu entbehren.
Heute verzichten wir locker und mehr oder weniger gedankenlos auf
Rorate, aufs Turmblasen, auf Schnee - gezwungenermaßen.
In meinen Strandviertel namens Barra, genau genommen Porto da Barra, mit
einem der schönsten Strände der Welt, verunziert mit primitiven und
einfältigen Sextouristen aus Lüdenscheid, Tengen, Oberhundem und Wien
kommt einer nicht so leicht auf weihnachtliche Gedanken. Von
Besinnlichkeit keine Spur!
Ich könnte angesichts der Straßenkinder, Altwaren sammelnden Menschen,
Styroporkisten und Sonnenschirme tragenden Strandarbeitern und Fischern
Analogien flechten, die zum armen Ehepaar aus Nazareth zur Krippe
in Bethlehem und auf die Hirten zeigen. Die Herbergsbesitzer brauche ich
nicht lange zu suchen. Da brauche ich nur kurz das Bierglas beiseite zu
stellen und mich bei der Nase zu nehmen. Mein Beisl mit
österreichisch-ungarischen Schmankerln wurde nur für die Mittelklasse
und aufwärts gedacht und konzipiert. Keiner der an meinem Laden
vorbeigehenden Arbeiter hat genügend Geld, um seine Frau einzuladen, bei
mir Tafelspitz mit Semmelkren, oder auch nur ein Rindsgulasch, oder eine
Bratwurst mit Sauerkraut zu essen.
Um ganz ehrlich zu sein, habe ich auch mit der Weihnachtsdekoration in
unseren Nobelvierteln keine richtige Freude. Anstatt die Lichter in
einfarbiger Einfachheit leuchten zu lassen, ließ die Stadtgemeinde einen
Narren ans Werk, der die Bäume in unterschiedlichsten Farben brillieren
läßt. Meine brasilianischen Mitmenschen haben eben mehr Talent für
Karneval als für Weihnachten, angesichts der Tatsache, dass der Fasching
ohnehin vor der Tür steht.
Habe ich jetzt beim erneuten Warten auf den Geburtstag des Heilands
keine neuen und persönlichen Erwartungen? Gelingt es mir, außer dem
jahraus jahrein angesammelten Schmutz im Beisl mit Hilfe einer Art "scandisk"
auch mein Hirn, mein Herz von unnützen Gedanken zu befreien, wieder auf
die Spur Christi zu finden? Wo leuchtet mir ein Stern?
Der Stern zeigt in Richtung Bolivien, Ecuador, Argentinien, Nicaragua
und Venezuela. Der Stern zeigt mir eigentlich keine Ruhe, keine
Besinnlichkeit, sondern Konflikte, die mitteleuropäische Leser
wahrscheinlich nicht verstehen. Für mich sind sie aber eine Art frohe
Botschaft. Der schon Jahrhunderte währende NICHT erklärte Bürgerkrieg
Lateinamerikas, der seit der Eroberung des Kontinents Indios und alle
armen Bewohner beraubte, unterjochte, meuchelte und prostituierte ist
nun offen entfacht. Der Stern Bethlehems hat uns allen die Widersacher,
die Gegner enttarnt uns so wie einst Herodes bloßgestellt. Der Stern
zeigt uns heute einen Weg aus der unheilvollen Neo-Kolonisation. Ich
wünsche mir, allen Bolivianern, allen Venezuelanern Besinnlichkeit und
Geduld, aber kein Abweichen vom endlich gefundenen Weg aus Lula, Evo,
Hugo, auf dass uns nach einer möglichst friedvollen "Weihnachtsputzerei"
ein neues und vereintes Lateinamerika geboren wird!
Salvador, 23. Dezember 2007
Reinhard Lackinger,
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