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"Weihnachtsputzerei"

Reinhard Lackinger, Beislwirt Ein Teil der Tische und Stühle auf dem Gehsteig, die Hälfte der restlichen Tische zeigen mit den Beinen nach oben. Die gestern gewaschenen Vorhänge warten über den Stuhllehnen im Freien. Im Innern des Beisls hantieren Josélia und Nena mit Bürsten, Besen, Eimern. Ich sitze draußen vor der Tür, trinke ein Bier, beobachte meine Umwelt und denke daran, dass ich außer den unzähligen Obliegenheiten auch noch eine Weihnachtsgeschichte schreiben sollte.

Weihnachten impliziert Stille, Ruhe, setzt Besinnlichkeit voraus. Alles Dinge, die mir fehlen. Oh ja, wir haben jede Menge Weihnachtstrubel...  im Shopping Center. Dort gibt es auch eine üppige
Weihnachtsdekoration mit abertausenden unregelmäßig blinkenden Lichtern, mindestens einen Weihnachtmann vom Dienst für die lieben Engelein, Söhne und Töchter der einkaufenden Vertreter unserer Mittelklasse, verirrt zwischen Lockangeboten und ihren marktschreierischen Verkäufern. Leider fehlen mir in meinem südamerikanischen, tropischen Domizil Dinge wie Tannenbaum, Wintermantel, Eile, um bald der Kälte zu entrinnen... an meine Kindheit und Jugendzeit denkend, denn heute spielt sich auch in Österreich die vorweihnachtliche Hektik nicht mehr nur in der Altstadt und  im Freien vor den Auslagen ab, sondern in klimatisierten und geheizten Einkaufszentren. Gewisse weihnachtliche Details, die uns noch vor Jahrzehnten wichtig erschienen, haben wir gelernt zu entbehren. Heute verzichten wir locker und mehr oder weniger gedankenlos auf Rorate, aufs Turmblasen, auf Schnee - gezwungenermaßen.

In meinen Strandviertel namens Barra, genau genommen Porto da Barra, mit einem der schönsten Strände der Welt, verunziert mit primitiven und einfältigen Sextouristen aus Lüdenscheid, Tengen, Oberhundem und Wien kommt einer nicht so leicht auf weihnachtliche Gedanken. Von Besinnlichkeit keine Spur!

Ich könnte angesichts der Straßenkinder, Altwaren sammelnden Menschen, Styroporkisten und Sonnenschirme tragenden Strandarbeitern und Fischern Analogien  flechten, die zum armen Ehepaar aus Nazareth zur Krippe in Bethlehem und auf die Hirten zeigen. Die Herbergsbesitzer brauche ich nicht lange zu suchen. Da brauche ich nur kurz das Bierglas beiseite zu stellen und mich bei der Nase zu nehmen. Mein Beisl mit österreichisch-ungarischen Schmankerln wurde nur für die Mittelklasse und aufwärts gedacht und konzipiert. Keiner der an meinem Laden vorbeigehenden Arbeiter hat genügend Geld, um seine Frau einzuladen, bei mir Tafelspitz mit Semmelkren, oder auch nur ein Rindsgulasch, oder eine Bratwurst mit Sauerkraut zu essen.

Um ganz ehrlich zu sein, habe ich auch mit der Weihnachtsdekoration in unseren Nobelvierteln keine richtige Freude. Anstatt die Lichter in einfarbiger Einfachheit leuchten zu lassen, ließ die Stadtgemeinde einen Narren ans Werk, der die Bäume in unterschiedlichsten Farben brillieren läßt. Meine brasilianischen Mitmenschen haben eben mehr Talent für Karneval als für Weihnachten, angesichts der Tatsache, dass der Fasching ohnehin vor der Tür steht.

Habe ich jetzt beim erneuten Warten auf den Geburtstag des Heilands keine neuen und persönlichen Erwartungen? Gelingt es mir, außer dem jahraus jahrein angesammelten Schmutz im Beisl mit Hilfe einer Art "scandisk" auch mein Hirn, mein Herz von unnützen Gedanken zu befreien, wieder auf die Spur Christi zu finden?  Wo leuchtet mir ein Stern?

Der Stern zeigt in Richtung Bolivien, Ecuador, Argentinien, Nicaragua und Venezuela. Der Stern zeigt mir eigentlich keine Ruhe, keine Besinnlichkeit, sondern Konflikte, die mitteleuropäische Leser wahrscheinlich nicht verstehen. Für mich sind sie aber eine Art frohe Botschaft. Der schon Jahrhunderte währende NICHT erklärte Bürgerkrieg Lateinamerikas, der seit der Eroberung des Kontinents Indios und alle armen Bewohner beraubte, unterjochte, meuchelte und prostituierte ist nun offen entfacht. Der Stern Bethlehems hat uns allen die Widersacher, die Gegner enttarnt uns so wie einst Herodes bloßgestellt. Der Stern zeigt uns heute einen Weg aus der unheilvollen Neo-Kolonisation. Ich wünsche mir, allen Bolivianern, allen Venezuelanern Besinnlichkeit und Geduld, aber kein Abweichen vom endlich gefundenen Weg aus Lula, Evo, Hugo, auf dass uns nach einer möglichst friedvollen "Weihnachtsputzerei" ein neues und vereintes Lateinamerika geboren wird!

Salvador, 23. Dezember 2007

Reinhard Lackinger, Dorfzeitung


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