Im
Grunde bin ich völlig ungeeignet, einen normalen Text über den
Frühling zu
redigieren! Warum? Ich lebe schon seit vier Jahrzehnten in einer
Umwelt, in der es eigentlich keinen Lenz gibt. Hier in Salvador,
Bahia, Brasilien gibt es keine Jahreszeiten, wie man sie zum Beispiel
in Europa kennt. Hier haben wir entweder Sommer mit hoher
Luftfeuchtigkeit oder Sommer mit extrem hoher Luftfeuchtigkeit.
Offiziell herrscht in
unseren Breiten Nordostbrasiliens seit dem 22. März Herbst. Das Klima
jedoch pfeift auf den Kalender und präsentiert uns wunderschöne
Sommertage... auch wenn diese bereits um 18Uhr gegen die Nacht
ausgetauscht werden... Eigentlich hätte schon längst der
Regen beginnen sollen. In einem verrückten Land wie Brasilien darf man
aber keine Logik erwarten. Vom Klima schon gar nicht.
Trotzdem erlaube ich mir
hierzulande mehr Frühlinghaftes wahrzunehmen als mir aus den
Online-Ausgaben österreichischer Tageszeitungen in die Augen fallen.
Wie erleben wir den
Frühling? Was lernen wir aus dem Erwachen der Natur, den immer länger
werdenden Tagen. Wie empfinden wir das Aufbrechen dunkler Rinden und
das plötzliche hervorschießen grüner Blätter? Was denken wir uns
angesichts der Blumen... bei Löwenzahn, Sumpfdotterblumen und Tulpen?
Während die Bäume ausschlagen... so frage ich mich... geschieht auch
Ähnliches und Frühlinghaftes mit und in uns Menschen?
Zweifellos! Wir räumen
den Wintermantel weg, ersetzen ihn durch leichtere Klamotten,
montieren die Fahrradständer langsam wieder auf das
Autodach... besuchen ab der ersten Maiwoche die Freibäder... bepinseln
Hektare bis Quadratakilometer nackte weisse Haut mit Sonnenöl...
Schutzfaktor 60.
Der Weg aus Ägypten und
aus den Jahren nahe der Hungergrenze der Nachkriegsjahre scheint nun
einigermaßen geebnet, in endlose Basistunnel, Fußgängerzonen und
Korridore klimatisierter Einkaufszentren verwandelt.
Der Alltag verlangt vom
Mitteleuropäer keine besonders große Opfer mehr. Die Umwelt wird immer
besser beschildert, dem Bürger mundgerecht nahegestellt. Es bedarf
keiner dramatischen Überlegung, keiner schwerwiegenden Entscheidung
mehr. Das Fahrrad, das uns vor 40, 50 Jahren zur Schwerarbeit in
die Fabrik brachte, dient heute nur noch Frau Muße und der Freizeit.
Der einst schottrige Straßenrand wich längst durchgehenden
Fahrradwegen.
Das einst so schwere Kreuz der Österreicher ist mittlerweile so
leicht geworden daß es auch von Schlafwandlern getragen werden kann.
Wie weit hat uns die soziale Gewißheit eingelullt. Laufen wir bald
Gefahr, uns in postmoderne Autisten zu verwandeln?.
Währenddessen liegen
Not, Elend und sämtliche ägyptische Plagen weiterhin vor unserer
nordostbrasilianischen Haustür, verlangen von uns täglichen Neubeginn,
stetes Wiedererwachen und Kampf um das tägliche Brot... mit oder ohne
prosciutto crudo, pâté de foie gras, camembert und Wein aus
den Anden.
Etwa so reagiert mein
Herz voll Entwicklungsneid auf meinen frustrierten Gusto auf Röhrl -
und Vogerlsalat, auf mein Sehnen nach den Düften von Flieder und
Pfingstrosen...nach dem Gesang der Amsel am frühen Morgen und auf dem
Weg zur Frühschicht... zu Fuß...
Drittweltliche
Unzulänglichkeiten wie Misere, mangelhafte Urbanisierung und soziale
Ungerechtigkeiten bescheren uns Brasilianern täglich nicht nur
Kalvarienberg und Golgotha, sondern irgendwie auch Auferstehung.
In Mitteleuropa schieben
wir gern dem Wetter, dem Föhn so manchen lapsus memoriae in
die weissbesockten Sandalen. Zu recht? Wenn einem bei der
Garageeinfahrt zum Einkaufszentrum das viel zu niedrige Portal die
Fahrräder vom Autodach fegt, lassen wir beides vorübergehend zu Hause
bzw. in der KFZ-Werkstätte und gehen per pedes weiter.
Zutiefst beeindruckt, wie nahe uns der Frühling plötzlich ist... mit
seinen Buschwindröschen, Apfelknospen, Schlüsselblumen,
Kohlweißlingen, Goldnesseln und Rauchschwalben.
Salvador, Brasilien 18. 04. 2007