Weihnachten in
Salvador, Bahia, Brasilien
Die
Webseite des Österreichischen Flugwetterdienstes klärt mich
über die Temperaturen im gesamten Alpenland auf. Seit Tagen
verfolge ich die blauen Ziffern auf der wohlbekannten
Landkarte. Lauter Minusgrade.
Währenddessen sitze ich mit nacktem Oberkörper in meinem
südländischen Domizil, genaugenommen in Salvador, Bahia,
Brasilien und schwitze bei offenem Fenster und trotz des über
mir rotierenden Deckenventilators. Müdes Tageslicht dringt ins
unbeleuchtete Zimmer, vermischt sich mit der Helligkeit des
Monitors. Die schrillen Stimmen der Bem-Te-Vis kündigen die
nahende Tropennacht an. Sachte, aber bestimmt und ohne
Dämmerung, spannt sich die laue Dunkelheit über die Hafenstadt
am Südatlantik. Es folgt die Stunde der blauen Abfallsäcke vor
den Häusern, die auf die Städtische Müllabfuhr bzw. auf die
flinken Hände von Straßenkindern, schwarzen Weibern und Alten
warten, die nach Essbarem, nach noch verwendbaren Objekten
suchen.
Da
sitze ich mit klebriger Haut und freue mich, weil mir eine
liebe Freundin aus Österreich eine
Adventkalender-Weihnachtskarte geschickt hat. Das glitzernde
Etwas, das sich an meinen Fingern ablagerte, erinnert mich an
die überladene Schminke einer dunklen Schönen beim Maskenball,
laden mich zu einer flüchtigen Gewissenserforschung ein. Die
vermeintlichen Spuren einer frivolen Begegnung erwiesen sich
jedoch als Schnee auf den Dächern und Gesimsen des
weihnachtlichen Motivs des kleinen Adventkalenders. Morgen
früh werde ich danach Ausschau gehalten. Welches
weihnachtliche Objekt uns diese allererste Illustration wohl
zeigen wird?
Die
armen Schwarzen von der Straße unten und aus der Favela
nebenan, brauchen derart zärtliche Aufmerksamkeiten nicht.
Dafür haben sie bestimmt kein Verständnis. Sie würden uns
womöglich zahn - und verständnislos anschauen, wollten wir sie
mit einem Adventkalender beglücken.
Morgen
werde ich unsere Veranda mit bunten Lampen schmücken. Einige
Lichter blinken heute schon von Büschen und Zierpalmen
gegenüber liegender Wohnbauten. Trotz der tannenähnlichen
Bäume vor den befestigten, sorgsam umzäunten und streng
bewachten Behausungen, erinnern mich die
Weihnachtsdekorationen baianischer Nobelviertel eher an Trios
Elétricos, an die dem Karnevalsspektakel dienenden, auf
riesigen Tiefladern montierten Höllensoundmaschinen, als an
den Advent, an die stille Jahreszeit.
Am
Abend des 24.12. wird sich wie immer meine Familie, oder
besser, Maria Alices Familie bei uns zu Hause treffen. Bei
dieser festlichen Gelegenheit wird gegessen, getrunken und
geplaudert. Nichts weiter!
Vergangenes Jahr war die liebe Freundin aus Österreich mit
ihrem Mann gerade hier in Salvador und bei unserer Feier.
Natürlich nützten wir die Gelegenheit, um meinen Baianos ein
paar Weihnachtslieder in deutscher Sprache vorzusingen. Oh
Tannenbaum, Leise rieselt der Schnee und selbstverständlich
auch Stille Nacht, Heilige Nacht.
Unserem Versuch folgte eine Tragödie! Keiner wollte aufpassen,
jeder redete durcheinander... Ein Bürgerkrieg mit
Splitterbomben, Granaten und rotativem Maschinengewehr!
So
nach ihrem Äußeren zu schließen, hält unsereins die
Brasilianer glatt für "zivilisierte", Europäern ähnliche
Menschen. Episoden wie diese jedoch vergiften unser Herz mit
Vorurteilen, lassen gewisse Zweifel aufkommen. Wie können sie
nur bei einem solchen Kunstgenuss nicht andächtig zuhören
wollen? Das ist doch die Höhe! Ein Skandal ist das !
Nach
einem kleinen Donnerwetter hörten schließlich alle schweigend
zu. Sie schwiegen auch nach der kunstvollen Darbietung noch
eine Weile...
Die
Weihnachtsbescherung brachte dann alles wieder in die Waage,
der Alkohol alles außer Rand und Band.
Weihnachtsstimmung gibt es hier bei uns in Salvador, Bahia,
Brasilien so gut wie keine! So etwas darf niemand von uns
erwarten. Jedes Fest in Bahia unterliegt zwangsweise der
Karnevals-Metamorphose. Egal ob Ostern zelebriert wird, oder
Sonnwendfeier oder Advent oder Weihnachten, "tudo vira
carnaval". Alles artet in Karneval aus... "Jingle Bells"
schlagen nach und nach in schweren Karnevalssound um. Portale,
Fenster, Ziersträucher und Palmen, überladen mit hektisch
blinkenden Lampengirlanden.
Der
Sturzbäche schwitzende Weihnachtsmann vom nahen Shopping
Center zerrt den Wattebart vom Gesicht, zieht seine roten
Klamotten aus, besteigt den Omnibus, der ihn an die unwegsame
Peripherie der Metropole bringt. Ein Chaos wie die Schafe und
Hirten von Bethlehem. Die auf der Straße schlafenden Menschen
erinnern an die Heilige Familie. Auch braucht keiner von uns
lange nach den Besitzern der Herbergen zu suchen. Nach König
Herodes auch nicht...
Weihnachten 2003
Reinhard Lackinger, Dorfzeitung, Bahia, Brasilien
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