Vom
Krampusschauen
Fernsehreportagen, aber auch
Zeitungsartikel meiner heutigen Umwelt in Salvador, Bahia geben immer
öfter Anstoß zu einer Gewissenserforschung. Die stumme Beklommenheit auf
den Gesichtern der dunkelhäutigen Menschenmasse meiner brasilianischen
Wahlheimat. Konzentrierte Blicke, ausschließlich das nackte Überleben vor
sich, in eine aussichtslose Zukunft projizierend...
Bilder, die wir längst vergessen glaubten.
Aktivitäten, die uns an die schlechten Zeiten der Nachkriegsjahre
erinnern. Physiognomien, die uns trotz der schwarzen Hautfarbe, den
drahtigen Kraushaarspiralen und den flachen, breiten Nasen bekannt
vorkommen. So wie diese armen Dunkelhäutigen waren auch wir einmal, sahen
auch wir aus, ehe uns der süße Zwang des Wohlstands der sechziger Jahre in
seine schützenden Arme schloss.
Auf einmal defilieren farbige Stillleben und
schwarzweiße Photos meiner ersten Lebensjahre vor den Augen meiner
Phantasie. Der Teller voll mit Polenta. Die „Gelbe Gefahr“ mit den weißen
Spuren der Milch. Der Sägespäneofen, die eingelagerten Braunkohlen, das an
die Hauswand gelehnte Waffenrad, die qualmende Waschküche, die einsamen
Erdäpfelfelder, das rote Gesicht des Altwarenhändlers, die auf Bretter
gespannten Hasenfelle. Dinge, die längst nicht mehr zu unserem Alltag, zu
unseren makellosen Kleidern passen, die wir heute auch an Werktagen
anziehen.
Das Herz der kleinen Stadt schlägt nun ganz
anders und nicht mehr entlang der grauen Zeilen der Zinskasernen und
Kastanienbäume, auch nicht am einst noch bewegten Hauptplatz, sondern im
klimatisierten Einkaufszentrum mit seinen günstigen Parkmöglichkeiten.
Wo heute eine lustige Menge viel versprechender
Vitrinen und gut beleuchtete Geschäftsportale um unsere Aufmerksamkeit
werben, gähnte einst der dunkle, ungepflasterte Platz, der von uns allen
„die Schleife“ genannt wurde. Der wichtigste Knotenpunkt des Tales, der
Trolleybusse, die im spärlichen Verkehr der Nachkriegszeit den Ton
angaben.
Immer wieder ziehen mich meine Erinnerungen an
jenen Ort, rufen die selbe Szene in mein Bewusstsein. Wie viele Jahre
zählte ich damals? 7 vielleicht, oder 8. Der Adventkalender, der mich
meine Kindheit lang begleitete, offenbarte mir an jenem Tag das fünfte
jener wohlbekannten Bilder. Symbole einer trauten Weihnachtszeit.
Nach dem Tannenzweig mit der roten Kerze, dem
Teddybären, dem Schneemann, dem lachenden Halbmond, schaute nun auch der
aus süßem Brot gebackene Krampus mit seinen putzigen Rosinenaugen in die
kleine Arbeiterwohnung. Daran erinnere ich mich noch heute genau, denn als
Kleinster durfte ich jeden Morgen das entsprechende Fensterl öffnen. Ich
tat das mit frommer Sorgfalt, weil die Mutter den selben Adventkalender
auch noch im darauf folgenden Jahr auf das doppelte Küchenfenster hängen
wollte.
An jenem Tag gab die Mutter meinem insistenten
Bitten und Drängen nach und ging mit uns in die Stadt zum Krampusschauen.
Mein Freund Walter, der mit seinen volksdeutschen Großeltern in einer
benachbarten Baracke wohnte, durfte auch mitgehen. Ich aber musste die
gestrickte Haube mit den lächerlich baumelnden Quasten aufsetzen, mit der
ich mich vor Silvos Schwester Kathi schämte.
Wir drei hatten die finstere Obusschleife fast
zur Gänze überquert, als es von der nahen Bahnübersetzung her rumorte.
„Ein Krampus“! Gleißendes Bewusstsein überflutete uns jäh, nagte an
unseren Gedärmen. „Ein Krampus“, pochte es in meinem Kopf, während sich
der Trubel, das Gejohle der ausgelassenen Meute näherte.
Dem Echo der abgefeuerten Stoppelrevolver folgte
der beißende Geruch verbrannten Schießpulvers. Im Zentrum des dunklen
Chaos bäumte sich eine schwarz vermummte Gestalt auf, schwang eine Rute,
rasselte mit einer Kette über den Bürgersteig.
Wie von einem Blitz getroffen riss Walter aus,
während ich meinen Körper an den meiner Mutter drückte, an ihrem
Wintermantel zerrte. Walter schnellte davon und lief und lief, als ginge
es um sein Leben. Wir riefen ihn zurück. Es half nichts. Unsere Schreie
verloren sich in jener Dezembernacht. Die Sohlen seiner Schuhe haben sich
tief in meine Kindheitserinnerungen gebrannt. Walter lief den Weg zurück.
Vor den Augen meiner Phantasie läuft er noch heute... Irgendwo… ich habe
ihn leider schon lange aus den Augen verloren.
Eigentlich wollte ich schon öfter darüber reden,
von Walter erzählen. Als Sohn und Enkel so genannter Volksdeutschen und
Bewohner hölzerner, mit Teerpappe gedeckter Baracken gehörte er zu den
Menschen, die so ganz anders waren als wir „Einheimischen“.
Frauen in schwarzen Kleidern, schwarze,
gestrickte Dreieckstolas um den Schultern, das Haupt bis tief in die Stirn
in ebenso schwarze Kopftücher gehüllt, Gemurmel und Gezeter in einer
schier unverständlichen Sprache, Blicke stiller Resignation. Unsere
Haltung war um vieles selbstbewusster als die der Volksdeutschen, obwohl
wir um keinen Groschen mehr besaßen als sie...
Die oberflächlichen Unterschiede, das Stigma der
improvisierten Behausungen genügten, legitimierten jenes Anders-Sein. Wir
teilten damals unser fichtengrünes Tal mit einem Vorboten der Dritten Welt
und wussten es nicht...
Heute gibt es in meiner Heimatstadt längst keine
Barackenlager mehr. Nicht nur die Nachfahren der einstigen Volksdeutschen,
sondern auch die seit den sechziger Jahren dort hängen gebliebenen
Gastarbeiter assimilierten sich im Laufe der Zeit vollkommen. Im Nu
gewöhnt sich der Mensch an den Komfort, den ihm eine wohlhabende Umwelt
beschert, die ihm zur Selbstverständlichkeit wird. Eine Gesellschaft, die
als Vater Staat den Heiligen Nikolaus zu haben scheint, fürchtet selbst
den hässlichsten Krampus nicht... Im Gegenteil, sie wählt ihn...
Es ist wie immer die Nähe des Elends, die mich
aufschrecken lässt. Die drittweltlichen Unzulänglichkeiten, die in den
Gesichtern der dunkelhäutigen Menschen geschrieben stehen. Ob ich all das
Leid mit ansehen will oder nicht, es nützt kein Wegschauen. Neben Pelé,
dem obdachlosen Sandler von vis à vis, machten es sich über Nacht drei
Straßenkinder bequem, klebten an den Mauern der gegenüberliegenden
Häuserreiche, als saugten sie an der tagsüber gespeicherten Sonnenenergie.
Die Zeitungsmeldungen verkündeten Massenmord und
kollektiven Totschlag, zeigten die leeren Stellagen, auf denen seit
mehreren Wochen lebenswichtige Medikamente fehlen, erzählten vom
wachsenden Heer der Schwarzarbeiter und Verkäufer geschmuggelter Waren,
von minderjährigen Dirnen und Drogendealern, von den Verordnungen unseres
Rabenvater Staates und den sporadischen Einschreitungen der Polizeigewalt.
Alles reichlich illustriert mit viel Blut, entsetzten Gesichtern und
einigen, verkrampft auf der Erde liegenden Toten, mit einer Schar stumm
herumstehender Schaulustigen.
Jahrzehntelang war mir unklar, warum mein Freund
Walter an jenem Abend des 5. Dezembers Reißaus nahm, als sich ein Krampus
näherte. Schließlich waren wir beiden Kinder nicht alleine unterwegs. In
unserer Begleitung befand sich eine erwachsene Person, die uns Schutz bot
: meine Mutter. Walter jedoch empfand es anders. Die Geborgenheit galt
mir, nicht ihm.
Ich habe lange Jahre gebraucht, um Walters
Fluchtmotiv zu ergründen. Die Stiefkinder der unbarmherzigen Gesellschaft
meiner brasilianischen Umwelt öffneten mir schließlich die Augen. Wäre ich
in Österreich, in der „Heilen Welt“ und in jenem Paradies sozialer
Gewissheit geblieben, hätte ich Walters Fliehen womöglich nie
verstanden...
27.
11. 2003
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Hintergrundliteratur
ausgewählt von
Karl Traintinger:
Ökonomie für den
Menschen
von
Amartya Sen
Als einer der bedeutenden
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weiter öffnende Schere zwischen dem global agierenden Turbokapitalismus
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dar, daß Freiheit, Gleichheit und Solidarität keine abstrakten Ideale
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gerechte Weltwirtschaft.
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Wir
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von
Noreena Hertz
Wir leben in einer
Welt der "schleichenden Übernahme". Die Politik ist auf dem Rückzug, statt
gewählter Regierungen bestimmen globale Konzerne das Geschehen. "Die
Wirtschaft ist am Ruder", schreibt Bestsellerautorin Noreena Hertz,
"Unternehmen sind zu Monstren geworden, globale
Giganten, die enorme
politische Macht besitzen" und "mit ihrer imperialen Herrschaft Staaten
knebeln". Der ungebremste globale Kapitalismus führe zum Tod der
Demokratie.
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